|
|
Angst auch bei Kindern als zum Leben gehörig
betrachten
Sie erweisen ihrem Kind
keinen Gefallen, wenn sie ihm Angst um jeden Preis ersparen wollen (was
kaum möglich ist!). Angst ist ein wichtiges Signal. Angstfrei
aufgewachsene Kinder sind deshalb nicht unbedingt lebenstüchtiger.
Kinder haben meist mehr davon, wenn sie erleben, dass Ängste zu
verkraften sind und wie man mit ihnen umgehen kann. Die dazu notwendigen
Erfahrungen fallen leichter, wenn sich Kinder in ihrer Familie geborgen
und gehalten fühlen und so Vertrauen in die Welt entwickeln können.
Angstfreie („unerschrockene“) Kinder haben im Leben oft besondere
Probleme, da sie Gefahren meist schlechter einschätzen und Grenzen
schlechter einhalten können.
Hinter auffälligem Verhalten die Angst
erkennen
Schon Erwachsenen fällt
es oft schwer, Ängste als solche zu erkennen. Viele lassen sich wegen
Herzrasen, Schweißausbrüchen oder Muskelverspannungen behandeln,
obwohl die eigentliche Ursache „Angst“ lautet. Ängste von Kindern
zu identifizieren, ist keineswegs leichter. So können folgende
Verhaltensweisen mehr oder weniger stark Angst ausdrücken: Ausweichen
und Vermeiden von Situationen, Ablehnung, tyrannisches und forderndes
Verhalten, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, Ein- und Durchschlafstörungen,
Anklammern und Protest bei Trennungen, körperliche Beschwerden (wie
Bauchschmerzen, Herzstiche, Atemnot), Bettnässen und Stottern.
Aktuell (9/2013): Bitte
unterzeichnen Sie meine AVAAZ-Petition zur Verbesserung
der psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland
unter diesem Link (links anklicken)
„Reize“ dosieren
Angst und Erregung
scheinen eng miteinander verbunden zu sein. Zuviel (äußerliche oder
innerliche) Erregung kann Angst auslösen. Während Säuglinge bis zur
zehnten Lebenswoche über eine Art „passiven Reizschutz“ zu verfügen
scheinen, müssen sie anschließend lernen, das für sie gesunde Maß an
Reizen selbst zu beeinflussen („aktiver Reizschutz“). Die
sogenannten Dreimonatskoliken drücken möglicherweise nichts anderes
aus als die Schwierigkeit des Säuglings, mit Reizen aus seinem Körperinneren
zurecht zu kommen. Überreizungen finden häufig auch abends statt, wenn
berufstätige Eltern ihrem Kind noch einmal ihre ganze Liebe zeigen
wollen. Sie brauchen sich dann nicht zu wundern, wenn das Kind nicht zu
Bett gehen will und kaum einschlafen kann. Fördern Sie alle Bemühungen
Ihres Kindes, Reizangebote auf ein gesundes Maß zu regulieren.
Eigene Ängste nicht weitergeben,
sondern selbst bewältigen
Eltern sind immer ein
Modell für ihre Kinder, an dem diese nicht nur Verhalten, sondern auch
den Umgang mit Gefühlen erlernen. Bereits Säuglinge spüren zwar schon
Gefühle. Wie sie mit Emotionen umgehen können bzw. wie diese
einzuordnen sind, finden sie jedoch erst heraus, indem sie bei ihren
Bezugspersonen überprüfen, wie diese auf die Situation reagieren. Gefühle
werden so „geeicht“. Wenn sich Kinder unsicher fühlen und bei ihrer
wichtigsten Bezugsperson rückversichern, werden sie bevorzugt deren
vorherrschende Gefühle und die damit zusammenhängenden
Verhaltensweisen übernehmen. Ängstlich vermeidende Mütter haben daher
vermehrt auch ängstlich vermeidende Kinder. Deshalb nutzt es wenig,
Kindern „Ängste“ nehmen zu wollen, wenn deren wichtigste
Bezugspersonen diese weiter modellhaft vorleben. Es ist fast eine
Binsenweisheit, dass Kinder die Gefühlslage ihrer Eltern widerspiegeln.
Überprüfen Sie daher immer, ob Sie nicht selbst unter Ängsten leiden,
wenn Sie entsprechendes bei Ihrem Kind vermuten. Gönnen Sie sich
gegebenenfalls selbst fachliche Hilfe.
Durch „Lust an Neuem“ der
„Fremdenangst“ vorbeugen
„Fremdeln“ ist
kulturabhängig und kommt in manchen Kulturen gar nicht vor. Dass
„Fremdeln“ („Fremdenangst“) in Deutschland keine Seltenheit ist,
hängt vermutlich auch damit zusammen, dass Kinder hier oft in engen
Einzelbeziehungen aufwachsen. Vielen fehlt dann die Erfahrung, sich auf
mehrere Personen einzulassen. „Neues“ kann bei Menschen gleichermaßen
Angst und Lust auslösen. In welche Richtung jemand mehr tendiert, hängt
oft vom Vorbild der Eltern ab. Wenn diese vor Neuem zurückscheuen (sei
es ein überraschender Besuch, ein neuer Spazierweg, eine andere Seife),
dann werden auch ihre Kinder eine solche Grundhaltung übernehmen.
„Fremdenangst“ lässt sich daher auch als „gebremste Lust an
Neuem“ interpretieren. „Fremdenangst“ können Sie vorbeugen, indem
Sie Ihr Kind schon im Säuglingsalter mit ein bis drei anderen Personen
bekannt machen und von diesen vertrauensvoll mitversorgen lassen. Bieten
Sie Ihrem Kind immer Verbindungsglieder zwischen Fremdem und Vertrautem.
Verhindern Sie, dass neue Eindrücke Ihr Kind überfluten. Führen Sie
es lieber langsam, stetig und über längere Zeit an Fremdes heran.
Lassen Sie dem Kind sein eigenes Tempo. Fragen Sie sich, wie Sie selbst
mit Fremdem umgehen und wie eng und ausschließlich Sie Ihr Kind an sich
binden.
Gelassen mit „Dreimonatskoliken“
umgehen
Mit dem Begriff
„Dreimonatskolik“ beschreibt man umgangssprachlich das Verhalten
zwei bis drei Monate alter Säuglinge, die phasenweise 30 bis 60 Minuten
lang ununterbrochen schreien und ihre Eltern damit zur Verzweiflung
bringen können. In aller Regel hört dies nach dem 3. Lebensmonat von
selbst wieder auf, ohne dass irgendwelche Folgen bleiben. Die genaue
Ursache von „Dreimonatskoliken“ ist unbekannt. Vertrauen Sie darauf,
dass auch Ihr Säugling diese Phase heil überstehen kann. Streiten Sie
mit Ihrem Partner nicht darüber, was „gut“ oder „schlecht“ für
das schreiende Kind ist. Gut Gemeintes wirkt in diesem Fall
ausnahmsweise fast immer gut. Lassen Sie notfalls den Kinderarzt überprüfen,
ob sich hinter dem Schreien Krankheiten, Veranlagungen oder Pflegefehler
verbergen. Verbergen Sie nicht Ihren Ärger und Ihre Verzweiflung über
das Dauergebrüll. Sorgen Sie dafür, dass Sie selbst genügend Energien
tanken können, um den „3. Monat“ gut zu überstehen.
Trennungsängsten durch Betreuernetz
vorbeugen
Trennungen sind
unvermeidbare Lebenserfahrungen. Man kann sie keinem Kind ersparen.
Trennungen sind zudem ein wichtiger Schritt zu Selbstbestimmung und
Eigenständigkeit. Da Ihr Kind in der Regel zwischen dem Wunsch nach
inniger Bindung und dem Bedürfnis nach Selbstständigkeit hin und her
gerissen sein wird, werden Sie irgendwann selbst nicht mehr wissen, wie
Sie sich verhalten sollen (der innere Konflikt Ihres Kindes hat sich
dann auf Sie übertragen). Hinter heftigen Trennungsreaktionen eines
Kindes (Weinen, Schreien) stecken keineswegs nur Ängste, sie lassen
sich auch als „Protest“ deuten. Sie erleichtern es Ihrem Kind, sich
von Ihnen zu trennen, wenn sich dieses vorher an andere Personen gewöhnen
konnte und dabei erlebte, dass es von diesen genau so zuverlässig und
einfühlsam versorgt wird wie von Ihnen. Trennungen können dann unter
Umständen sogar als angenehm erlebt werden. Vermutlich fällt der
Umgang mit Trennungsangst leichter, wenn viele kleine Trennungen auf dem
Boden eines großen Betreuernetzes bewältigt werden. Öffnen Sie sich
daher zum Beispiel in die Nachbarschaft. Ihr Kind wird sich um so
leichter auf die Betreuung durch andere einlassen, je mehr Sie selbst
eigene Vorbehalte gegenüber Ihrer sozialen Umwelt überwinden. Gönnen
Sie auch den Ersatzbetreuern, dass Ihre Kinder diese ins Herz schließen.
Pflegen Sie gute Ersatzbeziehungen weiter, da sie sich für Ihr Kind
nicht von selbst erledigen.
Den Umgang mit Aggression erleichtern
Angst und Aggression
(„Gewalt“) sind Ausdruck bzw. Folge derselben inneren Erregung.
Entwicklungsgeschichtlich macht dies Sinn, weil Angst Energien
mobilisiert, die nicht nur Flucht-, sondern auch Angriffstendenzen
(Gegenwehr) fördern. Oft haben Menschen Angst vor anderen, weil sie an
sich selbst spüren, zu welcher Gewalt sie prinzipiell in der Lage sind.
Angst kann daher auch die eigenen aggressiven Wünsche und Tendenzen in
Schach halten. Vor diesem Hintergrund können Sie manche Ängste Ihrer
Kinder auch dadurch verringern, in dem sie ihnen zu einem angemessenen
Umgang mit Aggression verhelfen. Ihr eigenes Vorbild wird dabei am
meisten überzeugen. Helfen Sie Ihren Kindern, nicht in
Ohnmachtssituationen zu geraten, da diese besonders starke Ängste
hervorrufen. Vermitteln Sie lieber „Kompetenzen“, mit denen ihre
Kinder schwierige Situationen lösen können. Muten Sie sich selbst
„konstruktive Auseinandersetzungen“ mit Ihren Kindern zu, um Ihren
Kindern nützliche Erfahrungen zu vermitteln. Verzichten Sie dabei auf
„Androhungen“ und „Dramatisierungen“. Erkennen Sie Ihre eigenen
Ängste, räumen Sie diese offen ein und unterscheiden Sie diese
deutlich von den Ängsten der Kinder.
Scheidungskindern Ängste nehmen
Trennungen der Eltern
rufen bei Kindern die Angst hervor, dass sie nicht nur einen Elternteil,
sondern beide Eltern verlieren könnten. Häufig befürchten die Kinder,
dass sie selbst wesentlich zum Streit und zur Trennung der Eltern
beigetragen haben. Nicht selten werden die Kinder auch als „Bote“,
„Puffer“ oder „Spion“ missbraucht, wodurch sie in erhebliche
Konflikte geraten. Für die Kinder ist es schon schwer genug,
gleichzeitig „auf zwei Hochzeiten tanzen“ zu müssen und dabei das
Gefühl zu haben, immer den jeweils ausgeschlossenen Elternteil zu
verletzen. Oft verlieren die Kinder durch einen erforderlich werdenden
Umzug ihre vertraute soziale Umgebung (was umso bedeutsamer ist, je älter
Kinder sind). Einige der genannten Nöte und die mit ihnen verbundenen
Ängste verringern Sie, indem Sie den Kindern das Gefühl vermitteln,
dass die Trennung nicht mit ihnen zusammenhängt. Werten Sie Ihren
ehemaligen Partner nicht ab, denn Kinder identifizieren sich mit beiden
Elternteilen und wollen auf diese gleichermaßen stolz sein. Erläutern
Sie Ihren Kindern, dass sie zwar das „Elternpaar“ verloren haben.
Versichern Sie ihnen zugleich, dass ihnen Vater und Mutter trotz allem
erhalten bleiben. Ersparen Sie Ihren Kindern „Loyalitätskonflikte“
und bemühen Sie sich selbst, die Situation und die damit verbundenen
Gefühle zu bewältigen. Denn je eher Sie selbst mit der Trennung klar
kommen und Ihren Kindern wieder stabile Verhältnisse bieten, umso eher
können auch Ihre Kinder den erforderlichen Trauerprozess abschließen.
Mit nächtlichen Ängsten einfühlsam
umgehen
Einschlafen bedeutet für Kinder
„Abschied nehmen“, „Kontrolle aufgeben“ und „allein sein“.
Meist ziehen dabei noch einmal Erlebnisse und Gefühle des Tages
innerlich vorbei, die dann erneut heftige Erregung hervorrufen. Auslöser
nächtlicher Angst gibt es also genug. Sie helfen Ihrem Kind, wenn Sie
ihm einen schützenden Rahmen und die Gewissheit bieten, auch während
der Nacht „da zu sein“. Mit Spaß verbundene Einschlafrituale
strukturieren die aufregende Übergangszeit zwischen Wachen und
Schlafen. Aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit und Planbarkeit vermitteln sie
das Gefühl von Sicherheit. Verzichten Sie darauf, am späten Abend noch
mit Ihrem Kind herumzutoben, wenn Sie ihm anschließend nicht genügend
Zeit zum ruhigen Ausklang einräumen können. Vielleicht hat Ihr Kind
auch ein „Übergangsobjekt“ (Stofftier, abgegriffene Windel usw.),
das es gleichsam als „Mutterersatz“ unbedingt mit ins Bett nehmen
muss. Machen Sie keine Staatsaffäre daraus, wenn Ihr Kind einmal im
Elternbett einschlafen will. Allerdings sollte dies die
Ausnahmesituation und Ihr Kind nur „Gast“ bleiben. Vermeiden Sie
also, dass es sich Ihr Kind im Elternbett allzu bequem macht. Scheuen
Sie sich nicht, Ihr Kind in dessen Bett zurück zu verfrachten, wenn es
anfängt, lästig zu werden. Fragen Sie sich bei nächtlicher Angst
Ihres Kindes immer auch, ob Sie Ihrem Kind nicht eigene Sorgen und
Konflikte übertragen haben. Gönnen Sie sich eine psychotherapeutische
Beratung, wenn die nächtlichen Angstzustände Ihres Kindes über Monate
anhalten.
Auf Schulangst differenziert reagieren
Ängste im Zusammenhang mit dem
Schulbesuch können unterschiedliche Ursachen haben. Beispiele sind
Trennungsschwierigkeiten zwischen Mutter und Kind, schlechte Behandlung
durch Mitschüler, Ablehnung durch einen Lehrer, charakterliche
Besonderheiten des Kindes, der Versuch, sich durch schulische Leistungen
Liebe zu erarbeiten, Überforderung durch den schulischen
Leistungsanspruch und Folgen einer jugendlichen Entwicklungskrise. Vor
diesem Hintergrund sind konkrete Empfehlungen schwierig. Auf jeden Fall
sollten Sie Ihr Kind nicht in eine Krankenrolle versetzen, indem Sie ärztliche
Atteste erwirken oder eine psychotherapeutische Behandlung als Alibi
gegen den Schulbesuch einsetzen. Versuchen Sie lieber, mit der Schule
zusammen zu arbeiten. Machen Sie sich bewusst, dass Sie Ihr Kind im Raum
der Schule nur wenig „beschützen“ können. Sprechen Sie alle von
Ihnen geplanten Aktionen mit Ihrem Kind ab, da Sie Ihr Kind sonst in
Loyalitätskonflikte gegenüber Lehrern und Mitschülern stürzen.
Vermitteln Sie Ihrem Kind einen Beschützer oder Fürsprecher in Form
eines Lehrers oder Mitschülers, wenn Ihr Kind kontaktscheu ist.
Gestehen Sie sich gegebenenfalls ein, dass Ihr Kind vielleicht durch den
Leistungsanspruch überfordert wird (Durch sein „nicht wollen“
versucht es dann, dem vorprogrammierten Misserfolg auszuweichen).
Erhalten Sie auf jeden Fall die „Leistungslust“ Ihres Kindes. Gönnen
Sie ihm professionelle Nachhilfe, wenn es Sie selbst überfordern würde,
Ihr Kind bei den Hausaufgaben zu betreuen.
Krankheitsängste verringern
Krankheiten können bei Kindern Ängste
auslösen, wenn sie diesen Zustand nicht kennen, wenn sie dabei
gesteigerte elterliche Ängste wahrnehmen, wenn sie magische
Vorstellungen entwickeln („zerstückelt zu werden“), wenn sie sich
besonders hilflos fühlen, wenn sie im Rahmen der Krankheit Trennungen
befürchten oder wenn besonders befremdliche Erfahrungen auf sie
zukommen (z.B. im Krankenhaus). Sie helfen ihrem Kind, wenn Sie dieses
über Verlauf und Behandlung der Krankheit altersangemessen aufklären
und sich von (insbesondere hypochondrischen) Ängsten des Kindes nicht
anstecken lassen. Versuchen Sie, Ruhe auszustrahlen und sich trotz allem
ein Stück Normalität bewahren. Stehen Sie bei akuten Erkrankungen und
Verletzungen Ihrem Kind bei und schicken Sie andere um Hilfe. Wägen Sie
bei Krankenhausaufenthalten Vor- und Nachteile eines Rooming-in sorgfältig
ab. Gönnen Sie sich bei längeren Krankheitsverläufen Erholungspausen
und organisieren Sie eine auf mehrere Schultern verteilte Betreuung.
Dadurch helfen Sie Ihrem Kind mehr, als wenn Sie sich bis zur Erschöpfung
verausgaben. Helfen Sie Ihrem Kind, vertrauensvolle Beziehungen zu Ärzten
aufzubauen, da Vertrauen Angst bindet. (Ende)
Diese Empfehlungen stützen
sich vor allem auf das Buch Kinderängste. Erkennen – verstehen –
helfen. Von Reinmar du Bois. C. H. Beck 1996 |
|