Menschen mit Scham fühlen sich oft
„ohnmächtig“ bzw. machtlos. Als Folge "unterwerfen" sie
sich anderen bzw. den "geltenden Normen" (sie passen sich an).
Diese Reaktion erinnert an das Rangordnungsverhalten bei manchen Tieren,
wo das unterlegene Tier mitunter "den Schwanz einzieht" und
"gesenkten Hauptes" davon trottet. Solche Tiere verhalten sich
im weiteren sehr oft auch "freudlos". Möglicherweise hat
Scham ihre biologische Wurzel in einem solchem animalischen
"Rangordnungsverhalten".
Zur Frage, in welchem Alter Scham im
Leben eines Menschen erstmals auftritt, besteht keine Einigkeit. Manche
Wissenschaftler deuten schon bei einem wenige Monate alten Baby das
Abwenden des Kopfes ("Abgrenzung") als Scham. Ziemlich sicher
sind Kinder zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr in der Lage,
Scham zu empfinden: In diesem Abschnitt lernen sie, sich von ihren
Müttern wegzubewegen (sich zu verselbstständigen), können sie in
einem Spiegel sich selbst erkennen (Selbstbewusstsein), reagieren sie
auf ihre kindlichen Leistungen sichtbar mit Stolz und entwickeln sie
Hemmung und Scham, wenn ihre positiven Gefühle (Freude und Stolz) von
den Bezugspersonen nicht angemessen beantwortet bzw. geteilt
werden.
Meist haben unter Scham leidende Menschen
hohe Ideale. Die Feststellung, diesen nicht gerecht werden zu können, löst
Scham aus.
Scham kann auch durch Personen der Umwelt
ausgelöst werden, wenn diese mit Hilfe von "Beschämung"
andere zu einem bestimmten Verhalten
veranlassen wollen. Oft leiden die Scham-Erzeuger selbst massiv unter Scham, die
sie – durchaus ungewollt - in Form von "Gegenbeschämung"
(Lächerlich machen) durch ihr Verhalten weitergeben.
Scham-
Betroffenen fehlt häufig das Gefühl einer sicheren „Identität“. Ursächlich können
Erfahrungen in der sehr frühen Kindheit sein wie etwa Misserfolge beim
Versuch, die Umwelt durch Gefühlssignale (wie Lächeln, Weinen) zu einem
passenden Verhalten zu bewegen bzw. sich mit wichtigen Bezugspersonen
emotional abzustimmen. In der Folge passen sich die
"ohnmächtigen" Kinder den Verhaltensweisen und Erwartungen
der Bezugspersonen an und entwickeln so ein "falsches
Selbst".
Scham-Betroffene haben selten richtig
erlernt, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen bzw. ihnen zu trauen. Häufig
findet man traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit, bei denen
das emotionale Erleben des Kindes und das seiner wichtigen
Bezugspersonen auseinander klaffen ("Mismatch"). Beispiele: 1. Ein Kind ist
„stolz“ auf ein selbstgemaltes Bild oder ein vorgesungenes Lied.
Statt Freude zu ernten, wird es jedoch für sein Werk ausgelacht und
verspottet. 2. Ein Kind glaubt, sich besonders „brav“ zu verhalten
und ahnt deshalb nichts Böses. Aufgrund eines Missverständnisses erhält
es jedoch plötzlich Prügel von seinen Eltern. 3. Eine Pubertierende fühlt
sich (noch) in ihrem Körper wohl. Unvorhergesehen wird sie während
einer Ferienfreizeit als „Tittenmonster“ verspottet. Aufgrund
solcher Vorkommnisse scheinen manche Kinder fortan eigenen Gefühlen zu
misstrauen und sich sicherheitshalber lieber auf die Gefühle und Rückmeldungen
der anderen zu verlassen (um erneute Verletzungen zu verhindern).
Zugleich wird „Vertrauen“ zu einem beherrschenden Thema im weiteren
Leben: Wenn man schon nicht den eigenen Körpersignalen vertrauen kann,
wem dann überhaupt? Scham ist deshalb auch Folge misslungener
emotionaler Kommunikation.
Für manche Scham lässt sich im eigenen
Leben keine „Ursache“ finden, da es sich um eine familiär begründete
Scham handelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wird und
sich allenfalls über ein „Familiengeheimnis“ entschlüsseln lässt.
Solche Scham kann vor allem im Handeln (Inszenieren) erkannt werden.
Schamkrankheiten
(mangelndes Selbstwertgefühl, Essstörungen, psychosomatische
Erkrankungen), wie überhaupt „emotionale Störungen“, nehmen
vielleicht deswegen so extrem zu, weil es immer schwieriger wird, in
einer multikulturellen, globalvernetzten und multimedialen Welt ein
stabiles Gefühl von Identität zu entwickeln. Es gibt keine eindeutigen
Ideale mehr, die ein solches Identitätsgefühl vermitteln könnten. Wer
keine Ideale hat, an denen er sein Verhalten messen kann, hat natürlich
auch weniger Grund sich zu schämen. Die vielfältigen von
Technik beherrschten Abläufe erschweren es auch immer mehr, eigenen Gefühlen
zu vertrauen. Dabei ist der menschliche Gefühlsapparat wohl nach wie vor
mehr auf
andere Lebensbedingungen zugeschnitten („optimiert“), als sie heute
herrschen. Die Medien
trimmen Menschen auf Selbstbeobachtung und Vergleich („Scham als
Unterscheidungskrankheit“). Zugleich nutzen sie die Macht der Scham,
um Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen (insbesondere Konsum und
Konformität) zu veranlassen.. |